Ein Gespräch mit dem Historiker Arend Jan Boekestijn über Integration, Islamkritik und die geplante Mitte-Rechts-Koalition in den Niederlande
WELT ONLINE: Auch die Niederländer reden über Thilo Sarrazin. Wie wird sein Buch in Ihrem Land aufgenommen?
(Jg. 1959) gehört zu den bekanntesten Publizisten der Niederlande. Der Historiker hat sich vor allem mit der Geschichte der europäischen Integration befasst, er lehrt an der Universität Utrecht. Von 2006 bis 2009 war er Abgeordneter der rechtsliberalen VVD im nationalen Parlament. In seinem jüngsten Buch „Der Preis eines schlechten Gewissens“ kritisiert er die heutige Praxis der Entwicklungshilfe.
Arend Jan Boekestijn: Die niederländischen Zeitungen haben summarisch über den Fall Sarrazin berichtet. Dabei standen seine genetischen Ausführungen im Mittelpunkt, es war wenig zu lesen über die fundamentale Botschaft des Buches: dass etwas mit der Integration schiefläuft in Deutschland. Ich finde das bedauerlich. Auch in den Niederlanden haben sich nur wenige Journalisten die Mühe gemacht, sich in das Buch zu vertiefen.
WELT ONLINE: Wie finden Sie das Buch?
Boekestijn: Ich habe es mir gleich gekauft und finde es wichtig. Sarrazin ist ein tiefer Denker, er kennt sich aus in der Wirtschaft, der Statistik, der Soziologie und Philosophie. Das Buch ist gut geschrieben, aber der Leser braucht schon etwas Vorwissen. Mir gefällt, wie er auf eine nicht politisch korrekte Weise, aber sehr fundiert über die Integrationsprobleme in Deutschland schreibt. Und er schlägt Lösungen vor. Klar ist: Der Sozialstaat hat der Integration nicht geholfen.
WELT ONLINE: Wie empfinden Sie die Diskussion in Deutschland?
Boekestijn: Dass er heftig kritisiert werden würde, war zu erwarten. Heinrich Heine hat einmal gesagt, dass in den Niederlanden alles 50 Jahre später passiert. Aber in der Integrationsdebatte sind wir weiter als Deutschland. Ich habe nicht verstanden, warum Frau Merkel den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard so gelobt hat, aber Sarrazin fallen ließ. Ich könnte mir vorstellen, dass sie das inzwischen bedauert. Jeder, der die Integration verbessern will, kann von Sarrazins gründlicher Analyse profitieren.
WELT ONLINE: Schauen die Niederländer überhaupt auf deutsche Politik?
Boekestijn: Ich fürchte, dass es immer noch zu wenig Aufmerksamkeit dafür gibt. Dabei spielt Deutschland eine immer wichtigere Rolle in der Welt, auch weil der Einfluss der USA zurückgeht. Deutschland hat die Lohnentwicklung besser kontrolliert und setzt damit einen Standard in Europa. Ich war außerordentlich angetan von den kritischen Anmerkungen Merkels zur Entwicklungspolitik beim UN-Gipfel. Niederländische Journalisten täten gut daran, genauer hinzusehen.
WELT ONLINE: Wie wird in den Niederlanden über die geplante Tolerierung einer Koalition aus Rechtsliberalen und Christdemokraten durch Geert Wilders diskutiert?
Boekestijn: Es gibt zwei Denkschulen: Die Konservativen hoffen, Wilders einzudämmen, indem sie mit ihm zusammenarbeiten. Nach dem Motto: Lieber ein Gauner neben mir als im Gebüsch. Die Progressiven lehnen generell jede Zusammenarbeit mit Wilders ab, weil sie fürchten, dass ihn das salonfähig macht. Ich gehöre zur ersten Gruppe. Populisten folgen anderen Regeln als die etablierten Parteien.
WELT ONLINE: Kann diese Konstruktion funktionieren?
Boekestijn: Der einzige Weg, Wilders’ Spielraum zu begrenzen, ist, mit ihm zusammenzuarbeiten. Und es funktioniert schon. Wilders’ Rede an Ground Zero war auffallend milde. Ich hoffe, dass er diese Linie auch bei seinem Auftritt am Samstag in Berlin beibehält. Es wäre noch besser gewesen, ihn ins Kabinett zu holen, aber das haben die Christdemokraten verhindert. Politik ist eben unvollkommen. Eines scheint mir sicher: Wenn das dänische Modell einer Duldung in den Niederlanden missglückt, wird Wilders’ PVV die größte Partei. Man muss es auf jeden Fall probieren.
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Thilo Sarrazin ist als exzellenter Finanzfachmann, aber vor allem als Provokateur bekannt. Mit seinen Äußerungen hat das SPD-Mitglied für viel Empörung und Kritik gesorgt. Ein Rückblick:
Januar 2002
Der Diplomvolkswirt wird zum Finanzsenator Berlins gewählt. Zur “Grundmentalität” der Berliner sagt er wenig später: “Nirgendwo sieht man so viele Menschen, die öffentlich in Trainingsanzügen rumschlurfen wie in Berlin.”
September 2003
“Es wird so getan, als ob wir Kinder ins Konzentrationslager schicken”, sagt er zur öffentlichen Reaktion auf höhere Gebühren für Kindertagesstätten. Nach heftiger Kritik entschuldigt er sich.
Dezember 2005
Sarrazin schlägt vor, Bremen und das Saarland als eigenständige Bundesländer aufzulösen. Sie hätten vom Bund mehrere Milliarden Euro zur Haushaltssanierung erhalten, aber beim Schuldenabbau versagt. Berlin ist ebenfalls hoch verschuldet.
Februar 2008
Sarrazin rechnet vor, wie man sich mit einem Tagessatz von 4,50 Euro gesund und ausgewogen ernähren kann. Untergewicht sei das kleinste Problem der Hartz-IV-Empfänger. Später entschuldigt er sich für den Speiseplan. Juni 2008: “Für fünf Euro würde ich jederzeit arbeiten gehen”, sagt er, obwohl die Sozialdemokraten einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde fordern. Später bedauert er die Äußerung.
Juli 2008
In der Debatte um steigende Energiepreise und Staatshilfen für Bedürftige sagt der Finanzsenator: “Wenn die Energiekosten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können.”
Mai 2009:
Kurz nach seinem Amtsantritt im Vorstand der Deutschen Bundesbank erscheint ein Interview, in dem er sagt, die Politik müsse dafür sorgen, dass nur diejenigen Kinder bekommen, die “damit fertig werden”. Zudem sagt er: “Man muss den Leuten sagen: Glaube keinem Bankberater.” Die Bundesbank distanziert sich.
September 2009
Ein Problem der Hauptstadt sei, “dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden.” 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin lehnten den deutschen Staat ab und sorgten nicht vernünftig für die Ausbildung ihrer Kinder. Die Bundesbank legt Sarrazin indirekt den Rücktritt nahe. Die Schiedskommission der Berliner SPD lehnt einen Ausschluss Sarrazins im Dezember 2009 und im März 2010 ab.
Oktober 2009
Als Konsequenz aus den Äußerungen zur Integration von Ausländern verliert der Bundesbank-Vorstand seine Zuständigkeiten für den wichtigen Bereich Bargeld. Die Berliner Staatsanwaltschaft prüft einen Anfangsverdacht auf Volksverhetzung; im November werden die Ermittlungen eingestellt.
Juni 2010
Sarrazin äußert die Befürchtung, das schwächere Bildungsniveau vieler Zuwanderer aus der Türkei oder Afrika wirke sich negativ auf Deutschland aus. “Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer.” Die Staatsanwaltschaft Darmstadt nimmt wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung im Juli Ermittlungen auf.
August 2010
Kurz vor der Vorstellung seines Buches “Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen” sorgt Sarrazin mit Äußerungen zu muslimischen Zuwanderern und dem Erbgut von Juden (“alle Juden teilen ein bestimmtes Gen”) für viel Empörung. Die Rufe nach seiner Ablösung werden lauter. In seinem Buch warnt er, die Deutschen könnten “Fremde im eigenen Land” werden.
2. September 2010
Die Bundesbank beschließt, dass sie Sarrazin abberufen will. Über die Abberufung muss Bundespräsident Christian Wulff entscheiden. Er bittet die Bundesregierung am 3. September um eine Prüfung der Gründe zur Entlassung.
9. September 2010
Sarrazin kündigt an, dass er freiwillig die Bundesbank verlässt.
17. September 2010
Bundespräsident Christian Wulff verabschiedet Sarrazin offiziell aus dem Amt eines Vorstandsmitglieds.
WELT ONLINE: Wie bewerten Sie den Koalitionsvertrag inhaltlich? Was ist bemerkenswert?
Boekestijn: Ich denke positiv über die Vereinbarungen, obwohl ich bedauere, dass der Kündigungsschutz nicht gelockert wird. Bemerkenswert finde ich, dass es künftig möglich sein wird, ausländischen Kriminellen, die sich wiederholt strafbar machen, die Aufenthaltsgenehmigung zu entziehen. Auch das Vorhaben, den Einwandererstrom um die Hälfte zu reduzieren, darf man historisch nennen.
WELT ONLINE: Sie schrieben kürzlich, Rechtsliberale und Christdemokraten würden versuchen, den niederländischen Rechtsstaat zu retten. Inwiefern?
Boekestijn: Anders als Sarrazin vertritt Wilders Auffassungen, die mit der Religionsfreiheit und Pressefreiheit nicht vereinbar sind. Ich bin ein Liberaler, für mich sind diese Freiheiten heilig. Eine Zusammenarbeit mit Wilders wird dazu führen, dass er sich mäßigt, und das kann nur nützlich sein. Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, dass Wilders den Islam kritisiert. Jeder, der den Koran liest, wird feststellen, dass dort die Sicht auf Frauen, Homosexuelle, Konvertiten oder Ungläubige problematisch ist. Dass dem so ist – diese Wahrheit muss man aussprechen dürfen. Der Islam kommt einer Ideologie sehr nahe, wie Wilders sagt, aber er ist eben auch eine Religion. Das gilt jedoch genauso für das Christentum. Allerdings enthält die Bibel Passagen, die man als ein Plädoyer für die Trennung von Kirche und Staat interpretieren kann. Das ist wichtig – so etwas gibt es im Islam nicht. Wenn aber Wilders fordert, dass der Koran verboten werden muss oder dass der Glaube von Muslimen eine politische Ideologie ist, dann suggeriert er, dass die Religionsfreiheit für Muslime nicht gilt. Solche Auffassungen widersprechen unserem Grundgesetz, und sie sind übrigens auch kontraproduktiv.
WELT ONLINE: Die niederländischen Christdemokraten scheinen marginalisiert, in Umfragen liegen sie aktuell bei unter zehn Prozent. Sind sie wirklich moralisch zerrissen angesichts einer Kooperation mit Wilders, oder geht es um Parteitaktik?
Boekestijn: Bei den Christdemokraten läuft ein großer Machtkampf. Fast alle Dinosaurier der Partei haben sich gegen eine Tolerierung durch Wilders ausgesprochen. Interessant dabei ist, dass die Verteidigung der Entwicklungshilfe eine Rolle spielte, in der diese Dinosaurier Schlüsselpositionen besetzen. Für eine christliche Partei ist Religionskritik immer schwierig, weil sie fürchtet, dass auch ihr eigener Status zur Diskussion gestellt wird. Man darf nicht vergessen, dass manche konfessionelle Schulen in den Niederlanden bevorzugt werden. Aber auch Parteitaktik spielt eine Rolle. Fraktionschef und Außenminister Maxime Verhagen ist ein Meister darin, trotz der Schwäche der Christdemokraten in Verhandlungen viel zu erreichen. Am Ende dürfte er die Partei hinter sich vereinigen. Wenn das misslingt, gibt es die Option, an einer linken Koalition mitzuwirken. Aber das wäre gegen den Willen der christdemokratischen Wähler, und Wilders würde der Partei noch viel mehr Stimmen klauen.
WELT ONLINE: Vor zehn Jahren begann die sogenannte Fortuyn-Revolution gegen die etablierten Parteien und den wachsenden Einfluss des Islam. Geht die Revolte weiter?
Boekestijn: Ich sehe in dem für die Niederlande geplanten dänischen Modell einer Tolerierung ein politisches Korrektiv, das auf Fortuyn zurückgeht. Es hat also zehn Jahre gedauert, bis diese Revolte zu einer anderen Politik geführt hat. In diesem Sinne funktioniert die Demokratie in den Niederlanden gut.
WELT ONLINE: Wo sehen Sie die Niederlande in zehn Jahren?
Boekestijn: Ich hoffe, dass wir in zehn Jahren ein Land sind, in dem sich Muslime zu Hause fühlen und vollkommen gleichwertige Bürger sind, in dem aber auch klare Grenzen gegen die schleichende Islamisierung gezogen werden. Getrenntes Schwimmen, den Handschlag verweigern, Halal-Hypotheken, Scharia-Tribunale – das hilft der Emanzipation von Muslimas nicht. Der Auftrag muss sein, diese Politik so zu gestalten, dass wir die große Gruppe der friedlichen Muslime nicht von uns entfremden. Wir brauchen sie dringend, um die Extremisten in die Schranken zu weisen.
WELT ONLINE: Selbst Schweden hat jetzt eine Anti-Islam-Partei im Parlament – wie viele Länder in Europa. Wird diese europäische Bewegung wachsen, oder werden die etablierten Parteien sie mittelfristig aufsaugen?
Boekestijn: Ich denke, dass es beides geben wird. Man kann schon heute beobachten, dass die etablierten Parteien immer kritischer gegenüber dem Islam werden. Wilders will sicher der Kopf einer paneuropäischen Anti-Islam-Bewegung werden. Wenn er sich dabei nicht zu beherrschen weiß, ist die niederländische Konstruktion einer Tolerierung zum Scheitern verurteilt.
Arend Jan Boekestijn (Jg. 1959) gehört zu den bekanntesten Publizisten der Niederlande. Der Historiker hat sich vor allem mit der Geschichte der europäischen Integration befasst, er lehrt an der Universität Utrecht. Von 2006 bis 2009 war er Abgeordneter der rechtsliberalen VVD im nationalen Parlament. In seinem jüngsten Buch „Der Preis eines schlechten Gewissens“ kritisiert er die heutige Praxis der Entwicklungshilfe.
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- 01.10.2010,
17:10 Uhr - 01.10.2010,
17:15 Uhr - 01.10.2010,
17:18 UhrLebenszeichen sagt:
missstände sollten genannt werden können, ohne die religion in den vordergrund zu stellen.
- 01.10.2010,
17:23 UhrAlfred Steinmeier sagt:
@ FürsVolk sagt:
Auch die Deutschen müssen ihr Wahlverhalten endlich ändern, um die Missstände in diesem Land ein für allemal zu beheben.
Ich werde jedenfalls nur noch für rechts stimmen!Wenn du RECHT wählst, dann wählst du die Grünen und den Islam. Die stehen beim Nationalsozialismus repräsentiert durch die NPD. Wenn du gegen den Islam wählen willst, muss Du die sog. “rechtspopulistischen” Liberalen wie z.B. Die Freiheit wählen. Die Journalisten haben mittlerweile den Begriff “Rechtspopulismus” verdreht, so dass er zum Markenzeichen für eine Bewegung geworden ist, die gegen totalitäre Ideologien wie den Nationalsozialismus, Kommunismus und Islam(ismus) vorgeht.
- 01.10.2010,
17:25 UhrLebenszeichen sagt:
Mr. T
70% der muslime sind in deutschland gegen das kopftuch. der größte teil von ihnen ist hier, weil wir eine demokratie haben.
- 01.10.2010,
17:25 Uhr - 01.10.2010,
17:25 Uhr - 01.10.2010,
17:31 Uhr - 01.10.2010,
17:33 UhrARTKEL 5 GG sagt:
Wilders wird als Held oder als Ungläubiger in die Geschichtsbücher eingehen. Je nachdem, welche Seite gewinnt.
Ich arbeite daran, dass die Geschichtsschreibung ihn als Helden würdigen wird – denn das ist er.
Morgen in Berlin werde ich dabei sein.Für Demokratie, Menschenrechte und unsere Freiheit.
Dennoch ein beängstigendes Gefühl, als Teilnehmer der Veranstaltung durch eine Allianz aus linken Extremisten, SPD, GRÜNEN und SED-Nachfolgern der LINKEN zum Freiwild erklärt zu werden. So beginnen dunkle Zeiten..
- 01.10.2010,
17:35 Uhr
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Ideologisch sind Wilders und Sarrazin nicht vergleichbar. Sarrazin ist ein vor 68er Social Democrat, Wilders ein radicale liberal.